Nach vier Jahren Sanierung öffnet das Archiv der Avantgarden (ADA) seine Tore. Die Ausstellungsmacher setzen auf „durchlässiges Denken“.
Manchmal trügt der Schein. Wer ab dem 5. Mai das wiedereröffnete Blockhaus am Neustädter Markt besucht und durch die Türen des Barockbaus tritt, dürfte den eigenen Augen nicht trauen: Während das Gebäude an der Augustbrücke in historischer Pracht erstrahlt, wartet im Innenraum nämlich das architektonische Gegenprogramm. In dem völlig entkernten Innern öffnet sich eine weite Freifläche, in der sich eine spektakuläre Wendeltreppe hochkurbelt. Daneben hängt ein massiver Betonkubus von der Decke – das Herzstück des gesamten Baus. Hier lagert ab sofort das Archiv der Avantgarden (AdA), eine in Umfang und Struktur weltweit einmalige Sammlung, die der deutsch-italienische Kunstsammler Egidio Marzona 2016 dem Dresdner Museumsverbund übergeben hat.
Eine Sammlung von Weltrang: Design, Schallplatten, Grafik
„Wir sind wie das MoMA in Dresden“, sagt Leiter Dr. Rudolf Fischer. Die Sammlung umfasst rund 1,5 Millionen Objekte. „Die seit den 1960er-Jahren gewachsene Sammlung enthält Tausende Kunstwerke, Grafiken, Möbel und Designobjekte. Aber dazu auch alles andere, was wie auf einer Planetenbahn mit herumschwirrt: Einladungskarten, Servietten-Skizzen, Fotos, Filme, Schallplatten, Plakate, politische Manifeste, Zeitschriften, sogar Teppiche und ein Motorrad.“ Es gehe hier nicht um isolierte Werke, sondern immer um den Kontext. Und schließlich haben laut Fischer alle Objekte den gleichen Status: „Innerhalb der Sammlung bestehen keine Hierarchien.“
Von außen barocker Glanz, innen modernste Architektur
Bedingung für die Schenkung von Egidio Marzona war, das stark beschädigte und brachliegende Blockhaus als neuen Standort für die Sammlung zu sanieren. Die Instandsetzung ist nach rund vier Jahren Bauzeit und nach dem Entwurf des spanisch-deutschen Architekturbüros Nieto Sobejano Arquitectos nun abgeschlossen. „Das Ergebnis ist mehr als gelungen“, findet Rudolf Fischer: „Wir wollten die traditionelle Bauweise vieler Museen mit ihren klassischen White Cubes und Boxen vermeiden. Stattdessen können wir nun einen großen multifunktionellen Ausstellungsraum nutzen, der unterschiedlichste Blickachsen zulässt.“
Museum, Forschungsinstitut, Kultur- und Veranstaltungszentrum
Über die Treppe erreichen die Gäste dann die Forschungsplattform. Hier können sie sich niederlassen, die riesige Freihandbibliothek nutzen, selbst arbeiten und forschen – und haben dabei die Sammlung stets vor Augen. Diese Interaktion mit den Objekten ist wesentlicher Kern des AdA, das sich bewusst nicht als klassisches Museum definiert. Ein Beispiel: „Wir nennen die Menschen, die zu uns kommen, nicht Besucher, sondern Nutzer. Sie können unser Haus tatsächlich nutzen – und sei es nur zur Inspiration“, sagt Rudolf Fischer.
Auch wenn der Name „Archiv der Avantgarden“ zunächst sperrig klingt, nach meterlangen Schrankwänden voller Aktenordner – das Ziel des Hauses ist etwas ganz anderes: durchlässiges Denken, permanente Forschung, aktive Auseinandersetzung mit den Objekten. Kurzum: Hier setzt nichts Staub an. So versteht sich das ADA gleichermaßen als Forschungsinstitut mit internationalem Fellowship-Programm, Sammlung, Museum sowie Kultur- und Veranstaltungszentrum.
Vielfältiges Programmangebot mit Workshops, Vorträgen, Lesungen, Ausstellungen sowie „Objekt Talks“
Das ADA setzt ganz bewusst auf Angebote, die die Allgemeinheit ansprechen. Es heißt Hobby-Forscher ebenso willkommen wie internationale Wissenschaftler. Und es möchte mit den zweimal jährlich wechselnden Ausstellungen „die Menschen nicht nur ins Haus hineinlocken, sondern gern auch die Treppe hinauf in den Arbeitsbereich des Archivs lotsen“, sagt Rudolf Fischer: „Wir wollen die Menschen mit möglichst niedrigschwelligen Formaten ins Haus ziehen – aber vom Anspruch geht es dann schnell steil nach oben.
Schon während der Interimszeit im Japanischen Palais haben sich die sogenannten „Objekt Talks“ bewährt. Bei der selbst entwickelten Reihe wird ein ausgewähltes Objekt der Sammlung vorgestellt und besprochen – allerdings „nicht von Kuratoren oder Kunsthistorikern, sondern von jemandem, der eine besondere Beziehung zu dem jeweiligen Objekt hat“, erzählt Rudolf Fischer: „Besonders erfolgreich war der Vortrag über die DDR-Schreibmaschine ,Erika‘. Die von Karl Clauss Dietel designten Schreibmaschinen wurden in Dresden zu DDR-Zeiten mehr als eine Million Mal produziert und gehören zu den Design-Ikonen dieser Zeit.“ Den Vortrag dazu habe Günter Höhne gehalten, der als Journalist bei der Zeitschrift „form+zweck“ an einer solchen Maschine gearbeitet und später seinen Ausreiseantrag darauf getippt habe. „Das regte viele Gespräche an“, so Fischer. „Die Menschen im Publikum teilten ihre Arbeits- und Lebenserfahrungen – ausgelöst von einer Schreibmaschine.“
Das Ziel: Gesellschaft und Politik herausfordern
Denn natürlich ist das ADA mehr als eine Sammlung von Objekten – das Ziel von Egidio Marzona war von Anfang an, nicht nur Kunst zu sammeln, sondern die gesamten Prozesse drum herum zu dokumentieren; keine fertigen Kunstwerke abzuheften, sondern Gesellschaft und Politik herauszufordern und zu hinterfragen. Und tatsächlich steckt in vielen jahrzehntealten Objekten überraschend viel Aktualität. Wie etwa im Manifest „Vanille Zukunft“ der Wiener Künstlergruppe Haus-Rucker-Co aus dem Jahr 1969. Das reagiert auf die damals erhebliche Zukunftsangst der Menschen und formuliert halb schräg, halb optimistisch, halb ironisch: „Zukunft, wie wir sie sehen, ist hellgelb: wie Vanille-Eiscreme. Erfrischend, gut riechend, appetitlich. Vanillezukunft.“
Eröffnungsausstellung „Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls“
Mit einem Augenzwinkern spielt auch die Eröffnungsausstellung des ADA. Unter dem Titel „Archiv der Träume“ gilt es, das 1924 von Pariser Surrealisten gegründete „Büro für Träume“ zu entdecken, das Träume umfangreich archiviert hat. Damit macht das ADA gleich zu Beginn im Blockhaus klar: Trotz des vielen Betons geht es nicht um Festgesetztes, sondern um Schwingung und Entwicklung. Und eben … um Träume.
Archiv der Avantgarden — Egidio Marzona, Große Meißner Str. 19, 01097 Dresden, Deutschland, Öffnungszeiten: Ausstellungen, Dienstag bis Freitag, 15 bis 21 Uhr, Samstag bis Sonntag, 11 bis 19 Uhr
Nach vier Jahren Sanierung öffnet das Archiv der Avantgarden (ADA) seine Tore. Die Ausstellungsmacher setzen auf „durchlässiges Denken“.
Manchmal trügt der Schein. Wer ab dem 5. Mai das wiedereröffnete Blockhaus am Neustädter Markt besucht und durch die Türen des Barockbaus tritt, dürfte den eigenen Augen nicht trauen: Während das Gebäude an der Augustbrücke in historischer Pracht erstrahlt, wartet im Innenraum nämlich das architektonische Gegenprogramm. In dem völlig entkernten Innern öffnet sich eine weite Freifläche, in der sich eine spektakuläre Wendeltreppe hochkurbelt. Daneben hängt ein massiver Betonkubus von der Decke – das Herzstück des gesamten Baus. Hier lagert ab sofort das Archiv der Avantgarden (AdA), eine in Umfang und Struktur weltweit einmalige Sammlung, die der deutsch-italienische Kunstsammler Egidio Marzona 2016 dem Dresdner Museumsverbund übergeben hat.
Eine Sammlung von Weltrang: Design, Schallplatten, Grafik
„Wir sind wie das MoMA in Dresden“, sagt Leiter Dr. Rudolf Fischer. Die Sammlung umfasst rund 1,5 Millionen Objekte. „Die seit den 1960er-Jahren gewachsene Sammlung enthält Tausende Kunstwerke, Grafiken, Möbel und Designobjekte. Aber dazu auch alles andere, was wie auf einer Planetenbahn mit herumschwirrt: Einladungskarten, Servietten-Skizzen, Fotos, Filme, Schallplatten, Plakate, politische Manifeste, Zeitschriften, sogar Teppiche und ein Motorrad.“ Es gehe hier nicht um isolierte Werke, sondern immer um den Kontext. Und schließlich haben laut Fischer alle Objekte den gleichen Status: „Innerhalb der Sammlung bestehen keine Hierarchien.“
Von außen barocker Glanz, innen modernste Architektur
Bedingung für die Schenkung von Egidio Marzona war, das stark beschädigte und brachliegende Blockhaus als neuen Standort für die Sammlung zu sanieren. Die Instandsetzung ist nach rund vier Jahren Bauzeit und nach dem Entwurf des spanisch-deutschen Architekturbüros Nieto Sobejano Arquitectos nun abgeschlossen. „Das Ergebnis ist mehr als gelungen“, findet Rudolf Fischer: „Wir wollten die traditionelle Bauweise vieler Museen mit ihren klassischen White Cubes und Boxen vermeiden. Stattdessen können wir nun einen großen multifunktionellen Ausstellungsraum nutzen, der unterschiedlichste Blickachsen zulässt.“
Museum, Forschungsinstitut, Kultur- und Veranstaltungszentrum
Über die Treppe erreichen die Gäste dann die Forschungsplattform. Hier können sie sich niederlassen, die riesige Freihandbibliothek nutzen, selbst arbeiten und forschen – und haben dabei die Sammlung stets vor Augen. Diese Interaktion mit den Objekten ist wesentlicher Kern des AdA, das sich bewusst nicht als klassisches Museum definiert. Ein Beispiel: „Wir nennen die Menschen, die zu uns kommen, nicht Besucher, sondern Nutzer. Sie können unser Haus tatsächlich nutzen – und sei es nur zur Inspiration“, sagt Rudolf Fischer.
Auch wenn der Name „Archiv der Avantgarden“ zunächst sperrig klingt, nach meterlangen Schrankwänden voller Aktenordner – das Ziel des Hauses ist etwas ganz anderes: durchlässiges Denken, permanente Forschung, aktive Auseinandersetzung mit den Objekten. Kurzum: Hier setzt nichts Staub an. So versteht sich das ADA gleichermaßen als Forschungsinstitut mit internationalem Fellowship-Programm, Sammlung, Museum sowie Kultur- und Veranstaltungszentrum.
Vielfältiges Programmangebot mit Workshops, Vorträgen, Lesungen, Ausstellungen sowie „Objekt Talks“
Das ADA setzt ganz bewusst auf Angebote, die die Allgemeinheit ansprechen. Es heißt Hobby-Forscher ebenso willkommen wie internationale Wissenschaftler. Und es möchte mit den zweimal jährlich wechselnden Ausstellungen „die Menschen nicht nur ins Haus hineinlocken, sondern gern auch die Treppe hinauf in den Arbeitsbereich des Archivs lotsen“, sagt Rudolf Fischer: „Wir wollen die Menschen mit möglichst niedrigschwelligen Formaten ins Haus ziehen – aber vom Anspruch geht es dann schnell steil nach oben.
Schon während der Interimszeit im Japanischen Palais haben sich die sogenannten „Objekt Talks“ bewährt. Bei der selbst entwickelten Reihe wird ein ausgewähltes Objekt der Sammlung vorgestellt und besprochen – allerdings „nicht von Kuratoren oder Kunsthistorikern, sondern von jemandem, der eine besondere Beziehung zu dem jeweiligen Objekt hat“, erzählt Rudolf Fischer: „Besonders erfolgreich war der Vortrag über die DDR-Schreibmaschine ,Erika‘. Die von Karl Clauss Dietel designten Schreibmaschinen wurden in Dresden zu DDR-Zeiten mehr als eine Million Mal produziert und gehören zu den Design-Ikonen dieser Zeit.“ Den Vortrag dazu habe Günter Höhne gehalten, der als Journalist bei der Zeitschrift „form+zweck“ an einer solchen Maschine gearbeitet und später seinen Ausreiseantrag darauf getippt habe. „Das regte viele Gespräche an“, so Fischer. „Die Menschen im Publikum teilten ihre Arbeits- und Lebenserfahrungen – ausgelöst von einer Schreibmaschine.“
Das Ziel: Gesellschaft und Politik herausfordern
Denn natürlich ist das ADA mehr als eine Sammlung von Objekten – das Ziel von Egidio Marzona war von Anfang an, nicht nur Kunst zu sammeln, sondern die gesamten Prozesse drum herum zu dokumentieren; keine fertigen Kunstwerke abzuheften, sondern Gesellschaft und Politik herauszufordern und zu hinterfragen. Und tatsächlich steckt in vielen jahrzehntealten Objekten überraschend viel Aktualität. Wie etwa im Manifest „Vanille Zukunft“ der Wiener Künstlergruppe Haus-Rucker-Co aus dem Jahr 1969. Das reagiert auf die damals erhebliche Zukunftsangst der Menschen und formuliert halb schräg, halb optimistisch, halb ironisch: „Zukunft, wie wir sie sehen, ist hellgelb: wie Vanille-Eiscreme. Erfrischend, gut riechend, appetitlich. Vanillezukunft.“
Eröffnungsausstellung „Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls“
Mit einem Augenzwinkern spielt auch die Eröffnungsausstellung des ADA. Unter dem Titel „Archiv der Träume“ gilt es, das 1924 von Pariser Surrealisten gegründete „Büro für Träume“ zu entdecken, das Träume umfangreich archiviert hat. Damit macht das ADA gleich zu Beginn im Blockhaus klar: Trotz des vielen Betons geht es nicht um Festgesetztes, sondern um Schwingung und Entwicklung. Und eben … um Träume.
Archiv der Avantgarden — Egidio Marzona, Große Meißner Str. 19, 01097 Dresden, Deutschland, Öffnungszeiten: Ausstellungen, Dienstag bis Freitag, 15 bis 21 Uhr, Samstag bis Sonntag, 11 bis 19 Uhr