Kulturhauptstadt Dresden 2025

Michael Schindhelm über die Bewerbung

Amac Garbe

Dresden bewirbt sich um den Titel der Kulturhauptstadt Europas 2025. Der Autor und Kulturberater Michael Schindhelm kuratiert die Bewerbung. Ein Gespräch über die Sonderstellung Dresdens in Europa

Was macht Dresden in Ihren Augen besonders?

Es gibt Orte, die immer wieder Kreativität anziehen, Orte mit einer besonderen DNA. Dresden ist so eine Stadt. Im Frühbarock hat sie eine Figur wie den Komponisten Heinrich Schütz hervorgebracht, der einige der bedeutendsten Musikstücke seiner Zeit geschaffen hat. Dresden war für die Frühromantik enorm bedeutend oder 1848 zur Zeit der Märzrevolution; ebenso während der Moderne, als hier die Künstlervereinigung „Die Brücke“ gegründet wurde. Die Stadt war in verschiedenen Epochen ein Front-Runner gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen.

Sie sind in der DDR aufgewachsen, kannten Dresden schon als Kind. Zuletzt haben Sie einige Jahrzehnte überwiegend im Ausland gewohnt. Seit Mai 2018 sind Sie nun regelmäßig in Dresden. Hat die Stadt sich verändert?

Das Überraschende an Dresden ist seine einzigartige Mischung aus Wohlstand und Post-DDR. Ich habe in sehr reichen Städten wie Monte Carlo gewohnt – aber ein Tesla-Taxi war für mich wirklich etwas Neues. Das musste mir erst in Dresden passieren. So hat man zum einen das Gefühl, dass die Stadt sehr wohlhabend geworden ist. Auf der anderen Seite spürt man, weit mehr als in Leipzig oder Berlin, die Präsenz der alten Stadt mit ihrem DDR-Erbe.

Es gab ein Dresden in Brooklyn und eins in Manhattan. Das war also der Begriff für den Zustand, wenn man völlig am Boden angekommen war.

Den meisten Leuten fällt bei Dresden erst mal der Zwinger ein, vielleicht die Frauenkirche.

Im Ausland bekommen Sie interessanterweise völlig andere Assoziationen. In den USA habe ich oft die Geschichte von New York in den 1980er-Jahren gehört. Damals galt die Stadt als „fear city“, in manchen Teilen herrschte das totale Chaos. Ganze Viertel brannten ab, man nannte sie dann „Dresden“. Es gab ein Dresden in Brooklyn und eins in Manhattan. Das war also der Begriff für den Zustand, wenn man völlig am Boden angekommen war. Auf eine bittere Weise ist auch das ein Alleinstellungsmerkmal, das wir, wenn wir ein internationales Publikum ansprechen, nicht vergessen dürfen.

© Amac Garbe

Eines Ihrer letzten großen Projekte war der Bau eines Opernhauses in Dubai. Ist das bürgerliche Dresden dagegen nicht ein bisschen langweilig?

In Dubai passierte alles – zumindest bis zur Finanzkrise – mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit. Aber als ich dort lebte, habe ich eines begriffen: Der wahnsinnige Wandel, dem diese Stadt unterworfen ist, ist im Grunde derselbe, den wir in Mitteleuropa spüren. Dresden mag auf den ersten Blick anheimelnd wirken mit der idyllischen Barock-Situation und dem lieblichen Fluss, fast provinziell. Wenn Sie aber seine Menschen kennenlernen, stellen Sie fest, dass darunter sehr viel brodelt. Für mich ist es deshalb genau jetzt sehr spannend, hier zu arbeiten.

In den Bewerbungsprozess sollen sich die Dresdner Bürger einbringen können. Wie arbeiten Sie gerade?

Ich führe viele Gespräche mit möglichst unterschiedlichen Menschen, um ein möglichst heterogenes Bild davon zu bekommen, was die Bevölkerung über sich denkt.

Und was denkt sie? 

Sie ist gespalten. Es gibt die einen, die Veränderungen begrüßen, und es gibt die, die sie ablehnen. Letztere halten die deutsche Einheit für misslungen, fühlen sich betrogen, fühlen sich nicht gemeint, finden sich nicht wieder im politischen Diskurs. Es gibt zunehmend Bevölkerungsgruppen, die antagonistische Haltungen haben.

Sie meinen hinsichtlich der Migration?

Um Migration und Pegida geht es doch nur an der Oberfläche. Die eigentliche Frage lautet doch: Wie viel Globalisierung, wie viel Innovation wollen wir uns zumuten? Mein Eindruck von Deutschland insgesamt ist derzeit, dass alle eine gewisse Alarmiertheit spüren, weil ganz offensichtlich mit der Globalisierung ein ungeheurer Wandel auf uns zukommt. Der drückt sich in Technologie, Urbanisierung, Migration aus – und man kann ihn nicht aufhalten. In Dresden ist dieser Konflikt gerade besonders laut.

Fast überall spüren Sie diesen Riss durch die Gesellschaft, und überall hat er dieselben Ursachen.

Warum sollte Dresden trotzdem Kulturhauptstadt Europas werden? 

Das Paradoxe ist, dass es gerade dieser Konflikt ist, der das spezifisch Europäische an Dresden ausmacht. Ich lebe auch in London, dort habe ich die Zeit vor und nach dem Brexit erlebt – die Bilder von Pediga und Vote-Leave können Sie fast austauschen. Ich habe in Italien gelebt unter Berlusconi, habe ein paar Jahre in Frankreich verbracht, als Jean-Marie Le Pen aufstieg, habe in Holland und der Schweiz gearbeitet: Fast überall spüren Sie diesen Riss durch die Gesellschaft, und überall hat er dieselben Ursachen. Ich glaube, heute muss eine Kulturhauptstadt stellvertretend stehen können für den Kontinent – nur dann hat sie den Titel Kulturhauptstadt Europas verdient.

Was ist in so einer Situation die Aufgabe von Kultur? 

Die Kultur ist ein Instrument, Unterschiede zu verdeutlichen, damit sie sichtbar und nachvollziehbar werden. Im Medium der Kultur können wir uns gegenseitig von uns erzählen – und gleichzeitig Wege finden, diese Differenzen zu überwinden.

Kultur als Therapie? 

Zumindest kann sie einen wichtigen Reifeprozess anstoßen. Wir waren nach der Wende schon einmal in einer ähnlichen Situation wie heute. Alle sprachen damals über Vereinigung und versuchten, die Unterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands möglichst schnell zu verwischen. Dabei war es doch so: Wir kamen woanders her, wir hatten unterschiedliche Dinge erlebt, andere Geschichten. Natürlich ist es schwierig, Unterschiede anzuerkennen und Toleranz aufzubringen. Aber meiner Meinung nach haben wir damals eine Chance verpasst.

Aber es gab doch genug Romane, die sich mit dem Leben in der DDR und in Westdeutschland befasst haben … 

Schon, aber im Sinne einer Arbeitsteilung: Die einen schreiben über ihre Erfahrung im Osten, die Generation Golf macht ihr Ding – aber im Grunde haben doch beide nur ihr eigenes Publikum. Das war mehr Selbstbespiegelung als Dialog, am Ende war man sich nicht nähergekommen.

Dresden ist nicht nur eine alte Kulturstadt, sondern eben auch eine Stadt mit modernster Technologie. Welche Rolle spielt die für Ihre Sicht auf die Stadt? 

Die Verbindung von Geschichte und modernster Hochtechnologie ist in meinen Augen gerade das Besondere an der europäischen Stadt. Wir brauchen einen Kulturbegriff, der die Technologie mit einschließt. In Dresden haben wir dafür gute Voraussetzungen, weil es viele Forschungsinstitute gibt, die sich mit Zukunftstechnologie beschäftigen. Das darf aber keine Sache sein, die Wissenschaftler in ihren Labors machen, ohne dass die Stadt etwas davon mitbekommt. Kultur muss es schaffen, Stadt und Technologie zu verbinden.

Und wie geht das? 

Sie können Menschen nur dann von Innovationen überzeugen, wenn Sie ihnen zeigen, dass die ihnen helfen, ein Problem zu lösen, das sie sonst nicht lösen können. Beteiligungspolitik, Basisdemokratie – all das hat durch moderne Technologie viel mehr Möglichkeiten bekommen. Auch Occupy Wall Street und spätere basisdemokratische Entwicklungen sind aus der Idee der Digitalisierung geboren.

Aktuell wirft man den digitalen Technologien eher vor, Debatten zu simplifizieren und Populisten in die Hände zu spielen.

Klar, jede Erfindung trägt gute und schlechte Potenziale in sich. Das wichtigste Argument gegenüber den Technologiekritikern scheint mir das folgende zu sein: Gerade weil Populisten dazu neigen, Innovationen in eine Richtung auszubeuten, ist es wichtig, dieselbe Innovation in einem anderen, offenen Sinne zu verwenden. Diese Entwicklungen kommen doch sowieso; wer einfach nur Nein sagt zu ihnen, wird sie nicht verhindern. Er läuft höchstens Gefahr, nicht mehr verstanden zu werden.

Hätte Dresdens Bewerbung Erfolg, wäre es 2025 Kulturhauptstadt Europas. Was wird in diesem Jahr wichtig sein? 

Im Jahr 2025 wird die Hälfte der Bevölkerung von Dresden unter 45 sein. Das heißt, dass sie den Kalten Krieg nur noch aus der Kinderperspektive oder aus Nacherzählungen kennt. Gleichzeitig werden diese Leute aber Digital Natives sein. Das bedeutet, dass man es nicht allein jemandem wie mir überlassen darf, ein Programm für 2025 zu gestalten. Ich muss vielmehr auch diejenigen, die heute 16 sind, fragen, wie sie sich die Zukunft vorstellen und was sie dann gern machen möchten. Wenn ich mir das nicht anhöre, kann ich eigentlich nur scheitern.

Michael Schindhelm wurde 1960 in Eisenach geboren. Während seines Chemie-Studiums ging er für einige Jahre nach Russland. Er arbeitete als Übersetzer, Autor und Dramaturg; war Intendant der Theater in Gera und Basel und Generaldirektor der Stiftung Oper in Berlin. 2007 ging Schindhelm als Kulturmanager nach Dubai. Zuletzt erschienen sein Dokumentarfilm „The Chinese Lives of Uli Sigg“ und das Buch „Walter Spies: Ein exotisches Leben“.

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