Cindy Hammer – die Erbin Gret Paluccas

Ein Treffen mit der Dresdner Ausnahmekünstlerin

Cindy Hammer
Cindy Hammer setzt sich mit gesellschaflichen Themen tänzerisch auseinander. Foto: Erik Groß

Vor 100 Jahren revolutionierten Mary Wigman und Gret Palucca von Dresden aus das Ballett. Cindy Hammer hat an der Palucca-Schule gelernt und festigt mit ihrer Arbeit den Ruf der Stadt als Zentrum des zeitgenössischen Tanzes.

Ein nächtlicher Platz. Eine junge Frau, sie trägt Glitzerjacke und weiße Shorts, tanzt vor einer nackten Wand. Die Kamera fährt weiter, die Tänzerin klammert sich an einen Laternenmast. Dann: ein verlassener Parkplatz, zwischen dessen Markierungen Menschen liegen wie aufgebahrt. „Asphaltwelten“ heißt der dreiteilige Stückezyklus, den Cindy Hammer 2020 und 2021 als Pop-up-Performances im öffentlichen Raum aufführt, um auf die Not Obdachloser aufmerksam zu machen.

Mary Wigman und Gret Palucca machten Dresden zum Zentrum des zeitgenössischen Tanzes

Im Tanz tiefste Gefühle zu offenbaren, gar auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen, hat in Dresden Tradition. Vor rund 100 Jahren macht Mary Wigman von hier aus den Ausdruckstanz als New German Dance international bekannt. Gret Palucca, die Anfang diesen Jahres 120 Jahre alt würde, ist eine ihrer ersten Schülerinnen. 1925 gründet die sprunggewaltige Palucca ihre eigene Schule und bringt dort eine neue Einheit von Ballett und Ausdruckstanz auf den Weg. Anders als beim klassischen Ballett steht die künstlerische Entwicklung der Schüler im Fokus der Ausbildung.

Cindy Hammer
Im Tanz ungewöhnliche Bilder schaffen – dafür ist die Ausnahmekünstlerin Cindy Hammer bekannt. Foto: Privat

Auch Cindy Hammer lernt hier. Sie ist neun Jahre alt, als ihre Eltern mit ihr von Bad Muskau zum Vortanzen nach Dresden fahren. Elf Jahre später hält sie ihr Tanzdiplom in den Händen. Statt – wie der Großteil der Absolventen – ein festes Engagement anzustreben, geht Cindy Hammer, ganz in der Tradition Wigmans und Paluccas, andere Wege und gründet ihre eigene Compagnie „Go plastic“, zu Deutsch „plastisch werden“. In diesem Jahr feiert die Compagnie der heute 32-Jährigen zehnjähriges Jubiläum.

Cindy Hammer mixt verschiedenste Stile miteinander

Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten: 2009 bekommt sie das Esther-Arnhold-Seligmann-Stipendium, 2013 den Arras-Preis der Hanna Johannes Arras Stiftung zur Förderung der Kunst und Kultur in Dresden. Seit April 2016 ist sie assoziierte Künstlerin in Hellerau, dem hiesigen Europäischen Zentrum der Künste.

Tanzen ist sinnlich und kennt keine Sprachbarriere. Es ist eine besonders ausdrucksstarke Kunstform.

Cindy Hammer

Regelmäßig arbeitet sie im Ausland, etwa in Amsterdam, Montreal oder New York. Mit ihrer Meisterin verbindet sie nicht zuletzt die Freude am Experiment, etwa indem sie Künste wie Video, Bühnenbild und Kostüm in ihre Performances einwebt. So trat sie beispielsweise mit DJs aus der Clubszene auf, kombinierte Breakdance mit Ballett. „Ungewöhnliche Bilder zu schaffen – das interessiert mich.“ Ein Satz, den vermutlich auch Palucca einmal sagte.

Nachgefragt: Die Ausnahmekünstlerin Cindy Hammer im Interview

Du bist nach deiner Ausbildung in Dresden geblieben und prägst die Tanzwelt von hier aus. Warum ist die Stadt gut für dich?

Dresden ist übersichtlich und hat eine gute Größe, um zu netzwerken, etwa mit dem TanzNetzDresden. Jeder kennt jeden. Ich denke, wir pflegen hier ein anderes Miteinander, es gibt eine andere Solidarität. Es ist leicht, mit Kollegen und Partnern in Kontakt zu bleiben. Die Stadt hat Potenzial!

Welcher Ort hat dich in Dresden am meisten inspiriert?

HELLERAU, das Europäische Zentrum der Künste Dresden. Dort fühle ich mich als Künstlerin zu Hause, man ließ mich vieles ausprobieren.

Und was fehlt dir in Dresden?

Manchmal fehlt mir Platz für das Gegenwärtige, das Zeitgenössische. Das Potenzial ist da, aber oft liegt die Betonung auf der Tradition.

Bis heute ist die Palucca-Schule eine der weltweit führenden für zeitgenössischen Tanz. Was hat dir deine Ausbildung dort mitgegeben?

Das Handwerk natürlich, aber auch Ausdauer und Stärke. Das meine ich nicht nur auf physischer, sondern auch auf mentaler Ebene. Wigman und Palucca waren Macherinnen. Mein Ding zu machen, auf mich zu vertrauen, das trage ich weiter.

Was ist dir das Wichtigste am Tanzen?

Es ist eine besonders sinnliche und ausdrucksstarke Kunstform, die keine Sprachbarrieren kennt und eine Diversität an Techniken und Stilistiken möglich macht. Außerdem schätze ich die Nähe zur Kompagnie.

Für deine letzten Produktionen hast du die herkömmliche Bühne verlassen und bist raus in den Stadtraum gegangen. Was hat dich daran gereizt?

Es ging bei diesen Arbeiten um die Akzeptanz von Körperlichkeit im öffentlichen Raum. Was wird toleriert, was irritiert und weshalb? Welche Schutzräume brauchen und bauen wir uns? Diese Fragen haben mich gereizt.

Was wünscht du dir für das Jahr 2022?

Erstmal ein tolles Jubiläumsjahr. Unsere Compagnie wird dieses Jahr 10 Jahre alt! Eine erfreuliche Nachricht gab es für uns schon: Wir bekommen noch ein weiteres Jahr die Strukturförderung vom Bund, unterstützt durch DIEHL+RITTER/TANZPAKT RECONNECT.

Was hast du als nächstes vor?

Wir arbeiten gerade an einer neuen Produktion zum Thema WUT. „Mind the rage“ wird Anfang November 2022 im LOFFT Das Theater Leipzig Premiere haben. Außerdem feiern wir ein großes Compagnie-Jubiläumsfestival Ende November, Anfang Dezember.

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